Kommt man ein paar Monate nicht durchs Nordbahnviertel, geht man durch Gassen, die es vorher nicht gab. Wo der Weg beim letzten Mal noch an einer Häuserfront mit freiem Blick ins Grüne entlangführte, geht man nun durch eine Häuserschlucht. Ganze Siedlungen wurden innerhalb weniger Wochen aus dem Boden gestampft, und wo vor kurzem noch eine Brache lag, stehen nun himmelhohe Kräne neben tiefen Baugruben.
Städte wachsen organisch oder entstehen am Reißbrett. Im Nordbahnviertel suchen die Stadtplaner:innen einen Mittelweg. Am Reißbrett entsteht ein Viertel, das sich an die gewachsene Struktur rund um den früheren Nordbahnhof anschmiegen soll. Jenes organisch Gewachsene, das sich in die Reißbrettskizzen nicht recht einfügen will, wird natürlich trotzdem abgetragen. Oder brennt ab, wie die Nordbahnhalle. Während das Viertel neu gestaltet wurde, entstand in der Halle ein vielfältig genutzter Ort: Begegnungen, Feste, Veranstaltungen. Dies lief allerdings den Bauplänen zuwider. Als sich ein langwieriger Konflikt anbahnte, mischte sich Ende 2019 ein Großbrand in die stadtgestalterische Debatte ein.
Hinter dem Areal, auf dem die Halle stand, beginnt der Wildwuchs, die „freie Mitte“, wie Infotafeln erläutern. Hohes Gras, ungestutzt wachsende Sträucher und Bäume. Hier, wo Bahngleise, Überreste des Nordbahnhofs, ins Nichts führen, grüßt ein Mann, als begegneten einander zwei Wanderer in der Steppe. Zwischen hüfthohen Gräsern und Betonquadern, die von irgendeinem Bauprojekt liegen geblieben sind und nun die verlassenen Gleise blockieren, steht ein E-Scooter. Die Stadt ist nicht weit. Sie beginnt dort drüben bei den Kränen. Und ebenda, zwischen nagelneuem Supermarkt und Bike-Store steht auch der Rohbau einer rumänisch-orthodoxen Kirche. Neben diesem ragt schon der betongegossene Glockenturm in die Höhe. An jene der Kräne reicht er nicht heran.
(Wien/sl)