„Nein, ich glaube, als Euripides gelebt hat, hat es noch kein Christentum in Griechenland gegeben“, schreit die Frau im Bus, etwas zweifelnd, ihrer schwerhörigen Sitznachbarin ins Ohr. Die Fahrt von Wien nach Carnuntum dauert eine knappe Stunde. Rechts der Autobahn taucht die Christbaumbeleuchtung des heimatlichen Mineralölkonzerns auf, die nichts anderes beleuchtet als leere Außentreppen und Galerien. Links ziehen sich die Donauauen.
Endlich ist man da. Vom Parkplatz führt ein Trampelpfad in das grasüberwucherte römische Amphitheater. Menschen bewegen sich, andächtig wie auf einer antiken Prozessionsstrasse, zum Kunstereignis. Ein Flugzeug steigt vom nahen Wiener Flughafen in den Frühabendhimmel. Kalter Ostwind pfeift aus der ungarischen Tiefebene, die junge Intendantin kontrolliert 3-G-Nachweise und verteilt Wolldecken. Direkt hinter dem offenen Rund des Theaters surren die riesigen Windräder des Donaufelds. Ein Flugzeug setzt hörbar zur Landung an. Eine zierliche Gestalt in einem viel zu großen schwarzem Steppmantel huscht die Ruinen hinauf durch die Hecke. „Apollon!“ ruft sie mit erstaunlich kräftiger Stimme in den Abend. Der ältere Mann in Jeansjacke, der ihr folgt, ist nicht Apollon, sondern der Regisseur, der hier ein Stück über die Hybris, die menschliche Selbstüberhebung und Arroganz, aufführt. Es endet mit der historisch überlieferten letzten Prophezeiung des Orakels von Delphi: „Das schöngefügte Haus ist gefallen. Phoibos Apollon besitzt keine Zukunft mehr, der heilige Lorbeer verwelkt, seine Quellen schweigen für immer.“
Bevor der Bus wieder nach Wien fährt noch schnell ein Achtel Weißwein im Pappbecher. Flugzeuge starten und landen, die Windräder surren. Bei der Heimfahrt herrscht schläfrige Stimmung. Die Lichter des Mineralölkonzerns blinken ungerührt in den Nachthimmel.
(Carnuntum/sf)