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Vögel im Lockdown

Seit März 2020 wohnen nicht nur Menschen, Hunde und Katzen im Haus. Pünktlich zum Lockdown ist ein Taubenpaar im Hof eingezogen. Die Vögel sitzen gerne auf einer hofseitigen Fensterbank, die zur eingemieteten Firma gehört. Die Fensterbank ist trocken und windgeschützt.
Im April verfalle ich erstmals in einen Stupor. Die Therapeutin rät, mich an schöne Erinnerungen zu klammern. Und da bin ich, so zehn Jahre alt, und die Adria ist weit draußen so flach wie ein Teich. Unweit des Boots treiben dutzende Möwen. Ich schwimme vorsichtig hinaus. Langsame, kräftige Züge, wie ein Frosch. Ich ziehe an der ersten vorbei. Sie ist unbeeindruckt. Dann die nächste. Dann bin ich mitten unter ihnen. Es gibt ein Foto davon, das ich nicht finde.
Im Mai klopft mir jemand beim Gassigehen auf den Kopf. Ich bin fast 1,90 Meter groß, daher wundere ich mich. Dann klopft mir wieder wer auf den Kopf. Mit jedem Klopfen heiseres Geschrei aus den Baumwipfeln. Beim dritten Klopfen schaue ich rauf: Eine Krähe macht auf Hitchcock-Möwe. Der erste harte Lockdown hat sie mutiger gemacht. Die Brutzeit macht sie dreister.
Juli. Eine Frau von Bibos Gestalt steigt ein, ohne Maske. Freundliche Frage, ob sie eine aufsetzen könnte. Man bringe ja das Kind in den Kindergarten. „Ach, Sie glauben an den Virus?“, fragt sie.
Inzwischen zieren Spikes die hofseitige Fensterbank. Ein Lüftungsschacht wird mit einem Gitter versperrt. Das Pärchen schaut ratlos umher.
Ein Jahr später sehe ich Bibo wieder. Innert Wochen steigt sie drei Mal in die gleiche Bim ein, ohne Maske. Ein Mal ist ihr wehleidiger Sohn dabei, ebenfalls oben ohne. Sie herrscht ihn an, er solle mit seinem Roller aufpassen. Sein Roller ist mir scheißegal.
Die Tauben sind unbeugsam. Ihr Zuhause ist jetzt eine Nische in einer Feuerleiter. Manchmal sitzen sie auch unter ihrer alten Fensterbank.
(Wien/zs)

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